Der Fairplan
Foto: Zsuzsanna Ilijin (Illustrationen)
Mitten in Duisburg sitzen an einem kalten und grauen Winternachmittag Songül Kavut und Sven Schneider im Klassenzimmer einer Hauptschule. Seit einer Woche sind die beiden gemeinsam unterwegs, was ihren Auftrag zu etwas Besonderem macht. Mit der 23-jährigen Kavut und dem 45-jährigen Schneider kommt das „Bildung als Chance“-Projekt erstmals bei denen an, die es erreichen möchte: bei Schülern, die es schwerer haben als andere.
Der Zugang zu Bildung ist nicht nur für Kinder wichtig, sondern für die gesamte Volkswirtschaft
Denn Songül Kavut ist die erste Mitarbeiterin, die sowohl für Chancenwerk als auch für Apeiros arbeitet, zwei der vier Projektpartner, von denen jeder für sich schon lange dafür kämpft, die Bildungschancen benachteiligter Kinder zu verbessern. In Duisburg haben sich nun Apeiros, Ashoka, Chancenwerk und Teach First zu „Bildung als Chance“ zusammengeschlossen, um gemeinsam mehr zu erreichen. Dabei geht es jedoch nicht nur um Ungerechtigkeit im Bildungssystem, sondern auch um unnötige Verluste für die ganze Volkswirtschaft. Laut einer Bertelsmann-Studie kosten etwa Schul- und Ausbildungsabbrecher den Staat 1,5 Milliarden Euro – pro Altersjahrgang.
Da würde es sich rechnen, Schüler frühzeitig zu fördern und Schulen zu stärken. Den Kommunen fehlen dafür jedoch die Mittel, sodass immer häufiger private Geldgeber einspringen – wie in Duisburg: Das Geld für das Projekt „Bildung als Chance“ kommt zu großen Teilen von Haniel – darüber hinaus beteiligt sich auch die Welker-Stiftung.
Die Haniel Stiftung wiederum, in deren Verantwortung das Projekt seit 2013 liegt, ist die treibende Kraft im Hintergrund und steht den Projektpartnern beratend zur Seite. Sie unterstützt etwa mit ihrem weit verzweigten Netzwerk und bietet praktische Hilfe bei der Öffentlichkeitsarbeit. Von der ersten Idee vor vier Jahren an feilten die Partner an Strategien und Umsetzungen. Im Sommer 2013 fiel nun der Startschuss für das Projekt, dessen Teilnehmer mit viel Engagement das große Bild von „Bildung als Chance“ zusammensetzen wollen.
„Bildung als Chance“ hilft lernwilligen Kindern ebenso wie notorischen Schulschwänzern
Dazu gehört auch Songül Kavut, die gerade ihren Master in Erwachsenenbildung macht. Früher studierte sie Erziehungswissenschaften und verdiente nebenher ein bisschen Geld in einem Supermarkt. „Der Job ging mir auf die Nerven, da war es Glück, dass ich die Ausschreibung von Chancenwerk gesehen habe. Die Aufgaben machen mir Spaß.“ Seit 2012 ist Kavut nun Schulkoordinatorin fürs Chancenwerk. Das Geschäftsmodell des Sozialunternehmens funktioniert nach dem Prinzip „Geben und nehmen“: Oberstufenschüler können zwei Stunden pro Woche kostenlos Nachhilfe von Studenten erhalten, wenn sie im Gegenzug als Mentoren eine Gruppe von jüngeren Schülern an ihrer Schule betreuen.
Damit schafft es Chancenwerk, auch Kindern aus finanziell schwächer gestellten Familien den Zugang zu qualifizierter Nachhilfe zu ermöglichen. Als Schulkoordinatorin organisiert Songül Kavut die Nachhilfe, schult die Oberstufenschüler, pflegt den Kontakt zu den Eltern und ist gleichzeitig auch Ansprechpartnerin für Schulleitung und Lehrer. Die Kinder, mit denen sie zu tun hat, haben eins gemeinsam: Sie wollen lernen.
Fördern und fordern
Bei Apeiros muss sich Kavut um ein vollkommen anderes Problem kümmern. Die Organisation betreut im Auftrag der Jugendämter Schulschwänzer. Das bedeutet auf der einen Seite, die harten Fälle, die schon lange nicht mehr zur Schule gehen, wieder ins Bildungssystem zu integrieren. Auf der anderen Seite arbeitet das Wuppertaler Sozialunternehmen aber auch präventiv und setzt sich dafür ein, dass aus Schülern gar nicht erst Schulverweigerer werden.
Wie genau Apeiros das macht, lernt Songül Kavut nun zusammen mit Sven Schneider. Gerade haben zwei Eltern den Klassenraum verlassen. Schneider ist seit 2012 bei Apeiros. Wer dem gelernten Erzieher zuhört, versteht schnell, dass er sich nicht nur mit schwierigen Kindern und deren Familien auskennt, sondern auch versucht, anderen Menschen zu helfen, wo es nur geht. Wenn er nicht für Apeiros unterwegs ist, engagiert er sich als Diakon oder kümmert sich um sein Studium der Sozialarbeit. Erzählt er dann noch von seiner Familie – sechs Kinder –, könnte man sich schnell fragen, wie das alles in ein Leben passen sollte, wenn Sven Schneider nicht so entspannt wäre. Im Elterngespräch machte er klar, dass Schulschwänzen eine Ordnungswidrigkeit ist und er im Auftrag des Jugendamtes arbeitet: „Dabei treten wir den Eltern wertschätzend gegenüber“, sagt er.
„Wir wollen sie entlasten, indem wir beraten und Hilfe anbieten.“ Das Elterngespräch ist hier jedoch erst der dritte Schritt. Zuerst erfasst die Organisation die Fehlzeiten der Schüler, um einen Überblick zu bekommen. Im zweiten Schritt sprechen Mitarbeiter auffällige Schüler auf ihre Fehlzeiten an. „So wollen wir die soziale Kontrolle erhöhen und klarmachen: Dein Verhalten hat Konsequenzen“, so Schneider. „Elterngespräch, Hausbesuch, Bußgeldbescheide, Intervention des Jugendamtes – es gibt viele Möglichkeiten, die Schulpflicht durchzusetzen. Man muss sie nur nutzen.“ Apeiros tut dies mit Erfolg: An Testschulen konnten die Fehlzeiten um bis zu 80 Prozent verringert werden.
Im Verbund kann aus einzelnen Bildungsinitiativen ein dichtes Netz werden, das die Schüler auffängt
Der Idee von „Bildung als Chance“ folgend, soll das Apeiros-System mit den Modellen der anderen Partner verbunden werden. Deshalb wird Songül Kavut künftig nicht nur als Schulkoordinatorin für Chancenwerk arbeiten, sondern sich darüber hinaus an mehreren Duisburger Schulen um die Fehllisten und die Schüleransprache kümmern: Im Idealfall wird sie für Apeiros dort aktiv, wo mindestens ein anderer Projektpartner von „Bildung als Chance“ bereits vor Ort ist. So kann sie etwa Gelegenheitsschwänzern, die keine intensivere Betreuung durch Apeiros benötigen, positive Anreize und zusätzliche Unterstützung anbieten: entweder durch Nachhilfe von Chancenwerk oder durch Fellows von Teach First wie Olga Hartmann.
Gemeinsames Versetzungsziel: ein Team mit Vorbildcharakter
Nur ein paar Kilometer von Songül Kavut und Sven Schneider entfernt, arbeitet die 27-Jährige an einer Gesamtschule im Duisburger Norden. Seit Beginn des Schuljahres ist sie Fellow von Teach First. Die Idee der bundesweit aktiven Organisation: Kindern und Jugendlichen mit schlechten Startbedingungen bessere Bildungschancen zu bieten. Als Hochschulabsolventen arbeiten die Fellows zwei Jahre an den Schulen und unterstützen die Lehrer: „Wir übernehmen Förderkurse und machen Angebote, für die im normalen Schulalltag sonst keine Zeit bleibt“, so Hartmann. Mit dem Projekt „Bildung als Chance“ machte sich Hartmann bei einem Auftakttreffen im Sommer vertraut. „Ich war sofort begeistert.“
Doch bisher fehlte ihr noch die nötige Zeit, sich auch hier einzubringen. Die ersten Monate vergingen zu schnell: Lehrer kennenlernen, sich mit den Schülern vertraut machen – überhaupt das ganze System Schule. „Ich bin noch nicht einmal dazugekommen, mich mit dem Schulkoordinator vom Chancenwerk zusammenzusetzen – obwohl er einmal in der Woche hier ist“, sagt Hartmann. Das hole sie aber bald nach.
Auch Teach First und Chancenwerk können sich gut ergänzen. „Wir haben im Schulalltag ständig mit den Schülern und Lehrern zu tun. Da wissen wir, wann die nächste Mathearbeit ansteht oder wo ein Schüler besonderen Unterstützungsbedarf hat“, sagt Hartmann. Informationen, die Kinder jedoch schon mal für sich behalten und die so den Chancenwerk-Mitarbeitern bei der Nachhilfe fehlen.
Finden und verbinden
Derzeit lassen die Partner vom Centrum für soziale Investitionen und Innovationen (CSI) und der Uni Duisburg-Essen untersuchen, ob das Projekt hält, was es verspricht. Doch die Macher sind zuversichtlich: Wenn alles gut läuft, erreichen sie gemeinsam in Zukunft mehr Kinder in Duisburg als es allein möglich wäre. Jetzt müssen vor allem die Mitarbeiter zueinanderfinden, die an den Schulen im Einsatz sind. Um den Austausch zu erleichtern, wurde bereits eine Onlineplattform eingerichtet, die jedoch nur von wenigen genutzt wird.
„Kooperation ist immer erst Arbeit, dann Mehrwert“, sagt auch Marlene Hennicke von Ashoka. Die Organisation fördert Sozialunternehmer mit innovativen und nachhaltigen Ansätzen und behält bei „Bildung als Chance“ alles im Blick. Hennicke vermittelt zwischen den Partnern, wenn es mal schwierig wird: „Irgendwann wollen wir als ein Team auftreten. Da muss man aber auch eigene Interessen mal zurückstellen. Das ist nicht immer einfach. Doch wenn eines Tages alle Puzzleteile zusammenpassen, kann die Kooperation ihre ganze Wirkung entfalten – und Modell für andere Städte sein.“