Fehler fördern – dann kann auch etwas Geniales entstehen
Foto: 3M
Es sind kleine selbstklebende Zettel, die den Technologiekonzern 3M weltberühmt gemacht haben. Neongelb, quadratisch, jede Kante misst 76 Millimeter: Post-its. Erfunden wurden sie durch puren Zufall: 1968 scheiterte ein Chemiker von 3M bei der Suche nach einem neuen Superkleber. Sein Forschungsergebnis klebte zwar, ließ sich aber auch leicht wieder ablösen. Sechs Jahre später ärgerte sich sein Kollege Art Fry darüber, dass beim Singen im Kirchenchor ständig Lesezeichen aus den Noten herausfielen. Er erinnerte sich an den fehlerhaften Kleber, bestrich kleine Zettelchen damit und erfand so en passant die berühmten Klebezettel. Das Beispiel zeigt: Ideen für innovative neue Produkte entstehen oft nicht im Labor, sondern nebenbei, in der Freizeit oder durch Fehler.
Der Mutterkonzern der Post-its, 3M, stellt in seiner meterlangen Glasvitrine im Foyer des deutschen Hauptstandorts in Neuss neben den Klebezetteln etliche andere Erfindungen des Unternehmens aus. Hier thronen Scanner, die in Zahnarztpraxen die klebrige Abdruckmasse ersetzen können. Daneben: energieeffiziente Stromleitungen, Schutzmasken für Schweißer, wetterbeständige reflektierende Straßenschilder, Folien, die an verglasten Hochhäusern Wärme und Kälte dämmen können, Autolackbehälter, die sich automatisch entleeren. 3M hat mehr als 200 000 Patente angemeldet, obwohl das Unternehmen kaum Geld in die Entwicklung neuer Produkte steckt. Das Erfolgsrezept ist eine Unternehmenskultur, die jedem Mitarbeiter genug Zeit und Raum gibt, um selbst tätig zu werden, um Ideen für neue Technologien und Produkte im Arbeitsalltag zu entwickeln. Jeder Mitarbeiter darf 15 Prozent seiner Arbeitszeit eigenen Projekten widmen. Hat er das Gefühl, aus einer Idee könne mehr werden, kann er sie unabhängig von jeder Hierarchie dem Labor- oder Bereichsleiter vorstellen, den dies betrifft. Und zeigt sie auch nur in Ansätzen Potenzial, wird sie aus einem Sonderbudget gefördert.
Durch Zuhören entstehen Ideen
Für so große Unternehmen wie 3M – knapp 90 000 Mitarbeiter, der Umsatz liegt bei 30 Milliarden US-Dollar – ist ständige Innovation, wie sie Start-ups umsetzen können, ein Problem. Allein schon die Strukturen und die Größe stehen dem Prozess der Ideenfindung häufig im Weg. So ist der Umweg über individuelle Freiräume der Mitarbeiter auf der einen Seite ein organisationelles Wagnis, auf der anderen schlicht notwendig, um innovativ zu bleiben. Anke Kappenhagen etwa ist Technical Manager im Bereich Traffic Safety, kümmert sich also um die Entwicklung neuer Produkte, die die Verkehrssicherheit erhöhen sollen. Dazu gehören beispielsweise Fahrbahnmarkierungen oder Verkehrsschilder. Um hier innovativ zu bleiben, spannt 3M die ein, die es wissen müssen – die Kunden: „Sie suchen ständig nach Möglichkeiten, die Herstellung noch weiter zu verbessern und noch effizienter zu gestalten“, sagt Kappenhagen. Und durch Zuhören entstehen Ideen, aus denen neue Produkte oder auch zufällige Entwicklungen werden können.

„Unsere Mitarbeiter müssen motiviert sein, immer weiter zu forschen.“
Darüber hinaus besuchen die meisten Mitarbeiter auch regelmäßig potenzielle Abnehmer, tauschen sich aus, schauen sich Probleme in der Praxis an und entwickeln daraufhin Lösungen. Oder sie entdecken Bereiche, in denen neue Produkte das Leben erleichtern könnten, ohne dass sich die Kunden darüber im Klaren sind. Einer dieser Mitarbeiter ist Mirko Thamm, Produktmanager im Bereich Autoreparatur. Thamm arbeitet eng mit vielen Kfz-Werkstätten zusammen, besucht Lackierereien. Vor einigen Monaten stellte er bei einem Besuch gemeinsam mit Kollegen fest, dass die meisten Lackierer einmal im Monat viel Arbeit damit haben, ihre Lackierkabine zu reinigen: Mit Lösungsmitteln und Hochdruckreinigern dauert das meist mehrere Stunden. „Wir haben dann einen Schutz für die Kabine entwickelt, der wie eine Tapete angebracht wird und aus zwei unserer bewährten Technologien besteht“, sagt Thamm. „Auf der Oberfläche ist weiches Vlies, das wir zum Beispiel für Atemschutzmasken einsetzen. An der Unterseite haben wir einen Klebstoff angebracht, der aus ähnlichen Komponenten wie der Post-it-Klebstoff besteht“, sagt Thamm. Das Ergebnis: eine Tapete, auf der die Farbreste haften und die am Ende des Monats einfach von den Wänden abgezogen wird, ohne Spuren zu hinterlassen.
Post its – immer wieder die Post-its…
Für manche Menschen steht das Unternehmen 3M vor allem für diese eine, heute fast schon legendäre Innovation: „Wir werden immer noch oft mit Post-its in Verbindung gebracht, aber eigentlich ist uns das gar nicht so lieb“, sagt Rahn, der bei 3M für das Innovationsmarketing zuständig ist. „Tatsächlich bringen wir jedes Jahr über 1.000 neue Produkte auf den Markt. Das funktioniert, weil wir insgesamt 46 Technologien beherrschen.“ Und das schafft man nur durch Offenheit. Die Mitarbeiter sollen interagieren, sollen abteilungsübergreifend Kontakte knüpfen, sich zwischendurch auf einen Kaffee treffen, mittags in der Kantine und abends beim Grillen über ihre Ideen sprechen. Immer wieder kommt es vor, dass Innovationen gar nicht in der zuständigen Abteilung entwickelt werden: So verwendet der Mitarbeiter, der eigentlich für Schutzfolien zuständig ist, zu Hause mit seiner Tochter Kinderpflaster. Seine Tochter hätte gerne Pflaster, die im Dunkeln leuchten können. Am nächsten Tag besucht der Vater seine Kollegen in der medizinischen Abteilung: Ist der Vorschlag praktikabel? Hätte so ein Leuchtpflaster eine Chance auf dem Markt? Und: Wird vielleicht schon in irgendeinem anderen Zusammenhang ein fluoreszierender Stoff verwendet?

„Für ein Projekt konnten wir zwei unserer Technologien miteinander kombinieren, um eine Lösung zu finden.“
Natürlich ist nicht jeder Ansatz so revolutionär, dass er den Markt verändert. Viele Ideen der 3M-Mitarbeiter sind gut, aber es gibt keinen Markt dafür. Andere sind nicht alltagstauglich, manche lassen sich schlicht nicht umsetzen. „Letztendlich müssen wir wirtschaftlich bleiben“, sagt Anke Kappenhagen. „Wir können es uns nicht leisten, monatelange Entwicklungsarbeit in ein Produkt zu investieren, das niemand kaufen wird.“ In solchen Fällen müssen Vorgesetzte den Spagat bewältigen und einem begeisterten Mitarbeiter vorsichtig vermitteln, dass seine Idee nicht alltagstauglich ist und sie nicht weiterentwickelt wird. Gleichzeitig darf und soll der Mitarbeiter aber nicht demotiviert und desillusioniert werden, schließlich soll er auch weiterhin forschen und neue Ideen entwickeln. Für Kappenhagen wichtig: eine konstruktive Fehlerkultur. „Bei uns gilt, dass Kritik niemals persönlich sein darf. Nur so können unsere Mitarbeiter auch etwas mitnehmen, nur so bleiben sie motiviert, weiterzuforschen. Und das ist unser Ziel.“