Haniel

Aletta tritt aus dem Schatten

Autor: Sebastian Somfleth
Veränderung ist Teil der Haniel-DNA - und unser Vorbild für die Neuausrichtung ist Aletta Haniel, die das Unternehmen einst in eine neue Ära führte. Grund genug, sich die Vita dieser Frau genauer anzusehen und sie aus dem Schatten ihres Sohnes Franz ins rechte Licht zu rücken.

Eilig galoppieren die Postreiter im Frühjahr 1800 über die schlammigen Wege des Emscherbruchs, den Hellweg entlang weiter Richtung Osten. In ihrer Tasche befördern sie einen Brief an König Friedrich Wilhelm III. von Preußen höchstpersönlich. Der hat selbstverständlich Priorität. Sein Inhalt: ein in ausgefeilter Amtssprache verfasstes Bittgesuch. Die Absenderin ist eine bürgerliche Frau, Witwe und Unternehmerin aus der Kleinstadt Ruhrort, die kühn genug ist, den König in lokale Querelen zu verwickeln, während Napoleon vor Preußens Haustür steht – und ihr wird Gehör geschenkt. Die Rede ist von Aletta Haniel geb. Noot (1742-1815).

Handel in den Genen
Ihre Bitte entbehrte nicht der Grundlage; hatte doch ihr Vater, Jan Willem Noot (1708-1770), der Zollstation Ruhrort erst vor wenigen Jahrzehnten mit dem Bau eines ersten großen Wohn- und Kontorhauses zu überregionaler Bedeutung verholfen. In Ruhrort herrschte zu jener Zeit Aufbruchsstimmung: Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) und der Besatzung durch Frankreich ließ der preußische Staat ab 1766 den Hafen ausbauen und die Ruhr schiffbar machen, um Salz aus der Saline Königsborn bei Unna und später Steinkohle verschiffen zu können. Hier hatten sich die Noots als Salzinspektoren Schlüsselpositionen im Handel erarbeitet. Zuvor hatten sie sich bereits erfolgreich als Schiffer im Speditionsgeschäft auf dem Rhein betätigt. Alettas Familie mütterlicherseits, die Erkenschwicks, waren wiederum durch Produktion und Handel von Tuch im niederrheinischen Orsoy zu Ansehen, höherer Bildung und Wohlstand gelangt. Auch Aletta hatte in ihrer Jugend die Chance erhalten, ein Mädchenpensionat in den Niederlanden zu besuchen und dort unter anderem Französisch – damals die Sprache der Diplomatie und der feinen Gesellschaft – zu lernen.

Import trifft Export
Noch während des Siebenjährigen Krieges heiratete Aletta 1761 den Duisburger Weinhändler Jacob Wilhelm Haniel. Als wichtigstes Duisburger Exportgut profitierte Wein und damit Haniel in dieser Zeit von einer Hochkonjunktur. Sein Exportgeschäft in die Niederlande und nach England ergänzte den Kolonialwarenimport der Noots. Nach dem Tod ihres Vaters 1770 erbte Jacob Wilhelm dessen Unternehmen und vereinigte beide Geschäftszweige. Dadurch verteilte sich nicht nur das unternehmerische Risiko auf zwei Bereiche; mit Blick auf die weitere Entwicklung bot die Zweigleisigkeit Aletta auch ein größeres Startkapital für den Einstieg in die Montanindustrie.

Das Zepter fest in der Hand
1782 starb Jacob Wilhelm Haniel, was Aletta mit 40 Jahren zur Witwe machte. Ihr Sohn Wilhelm war zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt und damit noch nicht volljährig, weswegen sie sich dazu entschied, das Unternehmen unter der Bezeichnung J. W. Haniel seel. Wittib selbständig weiterzuführen – im 18. Jahrhundert durchaus nichts Ungewöhnliches, aber bei Weitem auch nicht der Regelfall. Entgegen den Konventionen heiratete Aletta nicht erneut oder führte das Unternehmen nur interimistisch. Sie gab die Führung über 20 Jahre lang nicht aus der Hand! In den 1790er Jahren traf allein sie unabhängige und wegweisende Entscheidungen mit Blick auf das Unternehmensportfolio: Aletta löste sich vom Wein- und Kolonialwarenhandel zugunsten des aufkommenden Steinkohlen- und Eisenwarenhandels. Diese Diversifizierung reflektiert auch der Name: Seit 1795 betitelte sich das Unternehmen als „allgemeiner Speditionshandel“.

Ein Trio aus Unternehmerinnen
Zum Ende des 18. Jahrhunderts nahm die Eisenverhüttung im späteren Ruhrgebiet an Fahrt auf. Die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung war Maria Kunigunde von Sachsen, die Fürstäbtissin von Essen, die zunächst in die Gutehoffnungshütte investierte, dann auf eigene Rechnung die Hütte Neu-Essen auf ihrem Grund errichten ließ und schließlich St. Antony aufkaufte. Sie stand in engem Kontakt mit Aletta Haniel und einer weiteren Witwe und unabhängigen Unternehmerin: Helene Amalie Krupp. Die drei Frauen bildeten ein regionales Netzwerk aus Unternehmenspionierinnen: Helene Amalie Krupp hatte bereits den Bau der Gutehoffnungshütte mitfinanziert und Anteile an ihr erworben. Aletta wiederum übernahm ab 1792 den Eisenwarenhandel für die Hütte St. Antony, ab 1795 auch für Neu-Essen und die Gutehoffnungshütte – alles in Absprache mit der Fürstäbtissin. Gleichzeitig belegen Rechnungen von 1796/97 auch Transportgeschäfte zwischen der Witwe Krupp und Aletta Haniel.

Weitblick für den Wandel
Mit ihren Investitionen in den Eisenwaren- und Kohlenhandel passte sich Aletta der wirtschaftlichen und politischen Situation an. Die Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich unter Napoleon spielten ihr in die Hände: Schon 1793 kam es zu ersten Seeblockaden gegen die britischen Inseln, 1796 schränkte Frankreich den englischen Handel mit dem Kontinent weiter ein, zwischen 1806 und 1813 bestand schließlich die Kontinentalsperre. Folglich ließ sich Wein auf den britischen Inseln nicht mehr verkaufen, der Eisenwaren- und Kohleexport aus England riss ab, was die Nachfrage in Europa (besonders in Frankreich und den Niederlanden, wozu auch das spätere Belgien zählte) in die Höhe trieb. Darin sah Aletta ihre Chance, sich gegen den Widerstand der Ruhrorter Händler einen Lagerplatz für ihre Speditionsgüter und damit ihre Position im Kohlen- und Eisenhandel zu erstreiten. Das anfangs genannte Schreiben an den preußischen König beweist ihre Hartnäckigkeit: Sie hatte vorher bereits sechs Bittgesuche an die Behörden geschrieben, war aber entweder vertröstet oder schikaniert worden. Also wandte sie sich direkt an König Friedrich Wilhelm III., der schließlich durchsetzte, dass Aletta einen Lagerplatz erhielt.

Ohne Aletta kein Ruhrgebiet
Aletta Haniel exportierte als erste Unternehmerin Eisenwaren aus der Ruhrregion ins mittlerweile französisch besetzte Flandern und Wallonien sowie nach Amsterdam. Beim Aufbau von Handelskontakten in diese Regionen kamen ihr die in der Jugend erworbenen Kenntnisse des Französischen und Niederländischen sicherlich zugute. Gleichzeitig erkannte sie einen überregionalen Markt für Steinkohle aus dem Ruhrtal. Sie kann ohne Zweifel als unabhängige Unternehmerin und Industriepionierin bezeichnet werden. Erst 1802 machte sie ihre Söhne Gerhard und Franz zu Teilhabern, erst 1809 zog sie sich vollständig aus dem Unternehmen zurück und überließ es den beiden zu gleichen Teilen; ihren ältesten Sohn Wilhelm ließ sie jedoch außen vor. Auch damit stellte sie die Konventionen ihrer Epoche hinten an und demonstrierte wirtschaftliches Kalkül. Mit ihren Investitionen agierte Aletta als Vorreiterin und Ideengeberin: Sie wies Gerhard und Franz mit der Portfolioveränderung zugunsten von Eisen und Kohle den Weg in die Zukunft. Ohne die Vorleistung ihrer Mutter hätten sie wohl nie der Essener Fürstäbtissin die Eisenhütten abgekauft, nie versucht Kohle unterhalb der Mergelschicht abzubauen und damit nie die Initialzündung für den industriellen Ruhrkohlenbergbau eingeleitet.